9 Betrachtungen über den irischen Regen
Der Regen ist hier absolut, großartig und erschreckend. Diesen Regen schlechtes Wetter zu nennen, ist so unangemessen, wie es unangemessen ist, den brennenden Sonnenschein schönes Wetter zu nennen. Man kann diesen Regen schlechtes Wetter nennen, aber er ist es nicht. Er ist einfach Wetter, und Wetter ist Unwetter. Nachdrücklich erinnert er daran, daß sein Element das Wasser ist, fallendes Wasser. Und Wasser ist hart. Im Krieg war ich einmal Zeuge, wie ein brennendes Flugzeug an der Atlantikküste niederging; der Pilot setzte es auf den Strand, flüchtete sich aus der Nähe der explodierenden Maschine. Später fragte ich ihn, warum er das brennende Flugzeug nicht ins Wasser gesetzt habe, und er gab mir zur Antwort:
»Weil Wasser härter ist als Sand.«
Ich habe ihm nie geglaubt, hier aber begriff ich es: Wasser ist hart.
Und wieviel Wasser sammelt sich über viertausend Kilometern Ozean, Wasser, das sich freut, endlich Menschen, endlich Häuser, endlich festes Land erreicht zu haben, nachdem es so lange nur ins Wasser, nur in sich selbst fiel. Kann es dem Regen schließlich Spaß machen, nur immer ins Wasser zu fallen?
Wenn das elektrische Licht ausgeht, wenn die erste Zunge einer Pfütze zur Tür hereinschlängelt, lautlos und glatt, glitzernd im Schein des Kaminfeuers; wenn das Spielzeug, das die Kinder natürlich haben liegenlassen, wenn Korken und Holzstücke plötzlich zu schwimmen beginnen und von der Zunge nach vorne getragen werden, wenn dann die Kinder erschrocken die Treppe herunterkommen, sich vors Kaminfeuer hocken (mehr erstaunt als erschrocken, denn auch sie spüren, mit welcher Lust sich Wind und Regen treffen, daß dieses Geheul Freudengeheul ist), dann weiß man, daß man der Arche nicht so würdig gewesen wäre, wie Noah ihrer würdig war...
Binnenländertorheit, die Tür zu öffnen, um zu sehen, was draußen los sei. Alles ist los: die Dachpfannen, die Dachrinne, nicht einmal das Mauerwerk ist sehr vertrauenerweckend (denn hier baut man provisorisch, wohnt aber dann, wenn man nicht auswandert, eine Ewigkeit in solchen Provisorien — bei uns aber baut man immer für die Ewigkeit und weiß nicht, ob die nächste Generation noch Nutzen von so viel Solidität haben wird).
Gut ist es, immer Kerzen, die Bibel und ein wenig Whiskey im Hause zu haben, wie Seeleute, die auf Sturm gefaßt sind; dazu ein Kartenspiel, Tabak, Stricknadeln und Wolle für die Frauen, denn der Sturm hat viel Atem, der Regen hat viel Wasser, und die Nacht ist lang. Wenn dann vom Fenster her eine zweite Regenzunge vorstößt, die sich mit der ersten vereint, wenn das Spielzeug über die schmale Zunge langsam in die Nähe des Fensters schwimmt, dann ist es gut, in der Bibel nachzuschlagen, ob das Versprechen, keine Sintflut mehr zu schicken, wirklich gegeben worden ist. Es ist gegeben worden: man kann die nächste Kerze anzünden, die nächste Zigarette, kann die Karten wieder mischen, neuen Whiskey einschenken, sich dem Trommeln des Regens, dem Heulen des Windes, dem Klappern der Stricknadeln überlassen. Das Versprechen ist gegeben.
Spät erst hörten wir das Pochen an der Tür — erst hatten wir es für das Schlagen eines losen Riegels gehalten, dann für das Rappeln des Sturms, dann erkannten wir, daß es Menschenhände waren, und wie töricht die kontinentale Mentalität ist, läßt sich daran erkennen, daß ich die Vermutung aussprach, es könnte der Mann vom Elektrizitätswerk sein. Fast so töricht, diese Vermutung, wie auf hoher See den Gerichtsvollzieher zu erwarten.
Schnell die Tür geöffnet, einen durchnäßten Zeitgenossen hereingezogen, die Tür geschlossen, und da stand er: mit durchgeweichtem Pappkoffer, Wasser lief ihm aus Ärmeln, Schuhen, vom Hut herab, fast schien es, als liefe Wasser ihm auch aus den Augen: so sehen Schwimmer aus, die an einem Wettbewerb für Rettungsschwimmen in voller Bekleidung teilgenommen haben; aber diesem hier war solcher Ehrgeiz fremd: er war nur von der Bushaltestelle gekommen, fünfzig Schritte durch diesen Regen, hatte unser Haus für sein Hotel gehalten und war seines Zeichens Schreiber in einem Anwaltsbüro in Dublin.
»Der Bus fährt also bei diesem Wetter?«
»Ja«, sagte er, »er fährt, hatte nur wenig Verspätung. Aber es war mehr Schwimmen als Fahren... und dies hier ist wirklich kein Hotel?«
»Nein, aber...«
Er — Dermot hieß er — erwies sich, als er trocken war, als guter Bibelkenner, guter Kartenspieler, guter Geschichtenerzähler, guter Whiskeytrinker: auch zeigte er uns, wie man das Teewasser auf einem Dreifuß im Kaminfeuer rasch zum Kochen bringt, wie man Hammelkoteletts auf dem gleichen, uralten Dreifuß gar bekommen kann, wie man Toast röstet an langen Gabeln, deren Zweck wir noch nicht herausgefunden hatten — und früh am Morgen erst bekannte er, daß er auch ein wenig Deutsch könne: er war in Gefangenschaft gewesen in Deutschland, und er erzählte unseren Kindern, was sie nie vergessen werden und nie vergessen sollen: wie er die kleinen Zigeunerkinder begrub, die bei der Evakuierung des KZ Stutthof gestorben waren; so klein waren sie — er zeigte es — , und er hatte Gräber in den hartgefrorenen Boden gegraben, um sie zu beerdigen.
»Aber warum mußten die sterben?« fragte eins der Kinder.
»Weil sie Zigeuner waren.«
»Aber das ist doch kein Grund — deshalb braucht man nicht zu sterben.«
»Nein«, sagte Dermot, »das ist kein Grund, deshalb braucht man nicht zu sterben.«
Wir standen auf; es war hell geworden, und im gleichen Augenblick war es ruhig draußen. Wind und Regen hatten sich entfernt, die Sonne kam über den Horizont, und ein großer Regenbogen stand über der See, so nah war er, daß wir ihn in Substanz zu sehen glaubten; so dünn, wie Seifenblasen sind, war die Haut des Regenbogens.
Immer noch schaukelten Korken und Holzstücke auf der Pfütze, als wir die Treppe hinauf in die Schlafzimmer gingen.